Seine Motive

Am 21.7.1943 notiert Jizchak Katzenelson in seinen Aufzeichnungen:

So schrieb ich hier schon etwas nach dem ersten Tag, um einem Volk, das zum Schlachten geführt wurde, ein Denkmal zu setzen. (…)Ich werde von einem seelischen Ekel ergriffen, wenn ich diese noch wunden Stellen Tag für Tag aufschabe.

Am 12. 8. 43 stellt sich der Dichter die Frage:

Soll ich Denkmäler für diese edlen Seelen errichten? Sechs Millionen – mehr als sechs Millionen?

Als Überlebender, noch Lebender, spürt Katzenelson den Auftrag: Mit seinen Möglichkeiten dem ausgemordeten jüdischen Volk ein Denkmal zu setzen. Zunächst ist er dazu aber nicht fähig, weil die Erinnerungen ihn immer wieder überwältigen.

21. 7. 43: So geht es mir immer, wenn ich versuche, über das Schicksal meiner wunderbaren Frau nachzudenken, der Mutter unseres Sohnes Zwi, der hier bei mir ist, und meiner zwei begabten Kinder, die mit ihr zum Todeslager verschleppt wurden, um geschlachtet zu werden. (…)Immer, wenn ich versuche, diese Leben zusammenzuzählen, überkommt mich ein Gefühl von Wahnsinn, und ich muss es lassen.

Erst am Schluss der Aufzeichnungen findet sich der folgender Eintrag:

16. 9. 43: Vierhunderttausend Warschauer Juden wurden niedergemäht bis zum Ende dieses Sommers. Ja, ich will von dem Mord an den vierhunderttausend Juden berichten.

Das erste Lied seines Poems dos lid funm ojsgehargetn jidischen folk hat der Dichter wie eine Propheten-Berufung gestaltet. So wird die Spannung zwischen dem Hören, dem Spüren des Auftrages und den Bedenken des Angerufenen deutlich (Wie kann ich singen…). Erst als er in seinem Inneren die Millionen seines ausgemordeten Volkes schaut, sagt er:

Ich will auf mein Volk, mein ausgemordetes, einen Blick werfen, stumm, verstummt – Und ich will singen! Ja! Her die Harfe! Ich spiel!

Die Schriftstellerin Yonat Sened schreibt über Jizchak Katzenelson im Vorwort:

Er war ein Mensch und wurde gezwungen, das Unmenschliche zu leben; ein Mensch der in Widersprüchen lebte, der zwischen Schwäche und Kraft hin- und hergerissen wurde, zwischen Lebenswillen – dem Wunsch errettet zu werden und vor allem seinen einen verbliebenen Sohn zu retten – und letzter Verzweiflung, zwischen dem Aufblinken von Illusion und dem Wissen, dass keine Chance besteht und es keinen Sinn gibt. Er war ein Dichter – Klagender, der wusste, dass er nicht singen kann, und zugleich, dass er Dichtung verfassen muss, an jenem Ort und zu jener Zeit, in denen keine Dichtung mehr möglich war.